Der Stammbaum
Ungefähr Mitte 1934 begann Biologielehrer Vollrath mit dem rassekundlichen Unterricht. Eines Tages bekam die Klasse die Hausaufgabe, mit Unterstützung von Vater und Mutter einen Familienstammbaum zu zeichnen. Bio-Vollrath wären gewiß die Augen übergegangen, hätten meine Eltern ihm, nach bestem Wissen und Gewissen, einen Stammbaum der Rabisanowitschs und Sudakowitschs präsentiert. Wen hätte er da nicht alles gefunden! Zum Beispiel einen Getreidegroßhändler aus Nikolajew in der Ukraine, der einst den russischen Muschiks das Korn vom Halm kaufte, noch bevor es reif war, und der - während seine Ehefrau Rahel zu Hause die Hände rang und mit Gott haderte - sein Geld so schnell wieder ausgab, wie es hereingekommen war. Das war mein Großvater väterlicherseits.
Dann einen wohlhabenden Fischereiflottenbesitzer aus Otschakow am Schwarzen Meer, der sich auch aufs Einpökeln der Fische verstand und es im großen betrieb. Das war mein Großvater mütterlicherseits.
Ferner hätten Fischhändler, Buchhändler, Schuster, Schneider, Kutscher und zudem ein paar »Gebildete« den Stammbaum geziert, Lehrer, Ingenieure, ein Anwalt und ein paar Ärzte. Sogar einen Schriftsteller gab es unter ihnen. Er hieß Jurij Libedinski, stammte aus Odessa und war ein Cousin von Mama. Er hat viele Bücher geschrieben, von denen einige sogar ins Deutsche übersetzt wurden, und er war in Moskau Vorsitzender des sowjetischen Schriftstellerverbandes. Er starb 1959, und ich habe ihn nie gesehen.
Aber auch ein Schammes aus Lochwitza hätte irgendwo an einem Zweiglein des Stammbaums gehängt. Ein Schammes ist ein Synagogendiener. Im alten Rußland war er in kleineren jüdischen Gemeinden auch so etwas wie ein Gemeindediener.
Unser Biologielehrer hätte in meinem Stammbaum auch einen entdecken können, der über Land gezogen ist und den Bauern alles verkauft hat, was sie brauchten und auch was sie nicht brauchten. Das war ein Bruder von Papa, ein lustiger Kerl, der, wie Papa, zu allem eine passende Geschichte zu erzählen wußte, eine Majsse, und der an einem eisigen Wintertag im Schneesturm verschwand und nie wieder auftauchte, nicht im Frühjahr nach der Schneeschmelze und auch nicht später.
Einige richtige Rabbiner hätten ebenfalls den Stammbaum geschmückt, aus der väterlichen Linie. Sie lebten und taten Gutes in kleinen jüdischen Dörfern zwischen Nikolajew, Cherson und Jelisawjetowskaja und sind schon sehr lange tot. Aber das hat gar nichts zu besagen. Ob tot oder lebendig, Rabbiner ist Rabbiner.
Des weiteren wäre Bio-Vollrath aufgefallen, daß als Geburts- und Sterbeort bei fast allen meinen Vorfahren mütterlicherseits »Akkerman« gestanden hätte. Die Erklärung dafür ist einfach. Die Sudakowitschs, die Familie meiner Mutter, waren fromme Juden. Und alle lebten im Getto der russischen Hafenstadt Akkerman, die heute Bjelgorod-Dnjestrowskij heißt. Sie waren dort seit Jahrhunderten ansässig.
Schließlich hätte unser Lehrer festgestellt, daß viele Sterbedaten der Akkermanschen Mischpoche (: Familie, Verwandtschaft) auf den gleichen Tag lauteten. Und Mama hätte ihm erklären müssen, so wie sie es mir vor vielen Jahren erzählt hat, daß damals bei einem schlimmen Pogrom in Akkerman viele Familienmitglieder der Sudakowitschs erschlagen, ertränkt oder verbrannt worden sind. Die wenigen Überlebenden flüchteten in die Gegend von Odessa, unter ihnen meine Großeltern.
In der väterlichen Linie des Stammbaums hätte an vielen Stellen der Vermerk stehen müssen: »Erschlagen, erstochen, vergewaltigt und dann erdrosselt vom aufgehetzten Mob und von Soldaten der Schwarzen Hundertschaft.« Diese berittene Elitetruppe des Zaren verbreitete, wo immer sie auftauchte, Angst und Schrecken. Oft geschah es, daß eine Abteilung der Schwarzen Hundertschaft durch eine jüdische Siedlung in Südrußland galoppierte und - nur so zum Vergnügen - ein paar Juden totschlug. Papa hat, wie er mir erzählte, diese SS des Zarenregimes in Cherson selbst erlebt.
Und links und rechts an den Blatträndern entlang in winziger Schrift, denn es waren ja so viele, die dort hätten Platz finden müssen, würde Bio-Vollrath alle die Vorfahren gefunden haben, die durch Hungersnöte, Verfolgungen und staatliche Willkürmaßnahmen in alle Welt verstreut wurden.
Aber was für ein Stammbaum ist das! Ein Stammbaum des Jammers und der Klage. Und ich frage mich: Warum eigentlich haben meine Vorfahren sich nie gewehrt? Warum haben sie in Akkerman und auch in Cherson nur die Hände zum Himmel gehoben, Gott angerufen mit verdrehten Augen und sich von dem verhetzten Pöbel totschlagen lassen? Und dasselbe in Berditschew und Nikolajew, in Odessa und Kiew, in Warschau, Lodz, Lubin, in Frankfurt, Regensburg und wo nicht noch all! Und in meiner Zeit sind Millionen Juden ohne Gegenwehr in die Gaskammern gezogen. Sie wußten, sie gingen in den Tod, und doch leisteten sie keinen Widerstand, waren wie gelähmt. Ich habe von keinem Fall gehört, daß sie Knüppel genommen und auf ihre Peiniger eingeschlagen oder sie mit bloßen Händen erwürgt hätten. Was hatten sie schließlich noch zu verlieren!
Immer schon war es so gewesen, wie Mordechai Gebirtig in seinem erschütternden Lied »S'brennt, Brider, s'brennt!« gedichtet hat, bevor er in Krakau von Hitlersoldaten erschossen wurde: »Un ijhr schteijt un kuckt asoj sijch mit varlejgte Händ, un ijhr schteijt un kuckt asoj sijch, wie unser Schtetl brennt (: Und ihr steht und schaut untätig mit verschränkte Händ' und ihr steht und schaut untätig, wie unser Städtchen brennt.)«
Nur wenige Ausnahmen gibt es, so den Aufstand im Warschauer Getto. Dort haben die Juden es vorgezogen, bevor man sie verhungern ließ oder bevor sie vergast wurden, sich zu wehren, den Kampf aufzunehmen, auch wenn sie wußten, daß er hoffnungslos war.
Wenn ich an den gewaltsamen Tod von sechs Millionen Juden in Verbrennungsöfen, Gaskammern und bei Massenerschießungen, wenn ich an das traurige Schicksal meiner Vorfahren denke, frage ich mich auch: Was für ein Gott ist das, der seine Kinder so verkommen läßt? Wo waren während der schrecklichen Zeiten seine Propheten Elijahu oder Jeremias, wo waren Abraham, Isaak und Jakob? Für was brauchen wir sie, wenn sie nur im Betsaal lebendig werden und vielleicht noch in schönen jüdischen Geschichten, wo sie immer nur Gutes stiften? Ein schlechter Gott, schlechte Propheten, schlechte Priester müssen das sein, die keine Wunder geschehen lassen in diesen Zeiten.
Aber warum habe ich mich nicht gewehrt? Jeder, der nur ein einziges Mal draufschlug oder auch nur bereit war draufzuschlagen, wird mich fragen dürfen: »Warum du nicht? Warum nur große Worte, nur Hader mit Gott und sonst nichts?«
Es stimmt, ich rede und ich jammere - und habe fast vergessen, daß ich eigentlich nur von meinem Stammbaum erzählen wollte, bei dessen Anblick Bio-Vollrath aus dem Staunen nicht herausgekommen wäre.
Aber dieser Stammbaum wurde nie geschrieben.
Geschrieben und gezeichnet wurde dagegen ein anderer, zu dem man weniger Erinnerungen, aber mehr Phantasie brauchte, ein künstlicher Stammbaum, einer, an dem rein gar nichts stimmte und bei dem doch alles stimmen mußte.
Ich kam also nach Hause und erzählte Mama, was unser Biologielehrer von uns wollte. »Maseltow (: Gut Glück, Wunsch bei freudigen Anlässen).«, sagte Mama.
Maseltow ist eigentlich ein Glückwunsch, eine Gratulation, aber wenn Mama das bei solcher Gelegenheit sagte und mit einem ganz eigenen Tonfall, war das alles andere als ein Glückwunsch, dann sollte das heißen: das hat uns gerade noch gefehlt!
Und so war's ja auch. Uns diesen Stammbaum!
»So gesund soll dein Lehrer sein, wie der Stammbaum - der Teufel hol ihn mitsamt deinem Lehrer - ein Dokument unserer Familie ist.« Das etwa hätte Papa gesagt, das Sechel dazu hatte er. Sechel - das ch wie bei >machen< ausgesprochen - ist ein wichtiger Begriff im Jüdischen, aber kaum übersetzbar. Es ist Intelligenz und Verstand. Aber nicht nur das. Es ist Verstand mit Witz und Esprit - kurzum Sechel.
Ich erklärte Mama, wie ein Stammbaum aussehen muß und was alles hineingehört. Und schon setzte sie sich hin und malte einen. Ich durfte ihr nur noch assistieren. So machte sie es immer. Da gab es keinen Widerspruch.
Du hast für uns gedacht, Mama, für uns gelernt, für uns geschrieben, für uns gesprochen, für die ganze Familie, und hast alle Entscheidungen allein getroffen. Gewiß, du warst es auch, die die Wohnungstür öffnete, wenn es klingelte und wir im hinteren Zimmer zusammenhockten und nicht zu atmen wagten in der Erwartung: Nun ist es soweit, nun kommt man uns holen. Warum eigentlich, Mama, hattest du so große Angst, wir andern könnten etwas falsch machen? War es wirklich nur Angst?
Vereint saßen wir um den großen Eßtisch. In der Mitte lagen zwei zusammengeklebte Zeichenblätter, auf denen Mama, ausgehend von dem nun einmal vorhandenen Familiennamen Jakob Senger und ihrem im falschen Paß angegebenen Mädchennamen Olga Fuhrmann, ein Kästchen an das andere fügte und so einen fiktiven Stammbaum zusammenbaute, der allen schulmeisterlichen Nachprüfungen standhalten konnte und dessen dichtes Blattwerk, Name für Name, aus nichts als Lügen bestand. Ich durfte Mama dabei helfen, und ich ließ meine ganze Phantasie spielen. Auch Paula, die später nach Hause kam, beteiligte sich am Erfinden und richtigen Einordnen von rassekundlich akzeptablen Vorfahren. Die Kunst war nämlich: es mußte mit den Namen, den Geburts- und Sterbedaten alles zueinander passen, vertikal und horizontal und sogar im Rösselsprung.
Von weittragender Bedeutung war die Idee, die Geburtsorte aller Vorfahren in die Gegend zwischen Don und Wolga zu verlegen und auf diese Weise glauben zu machen, daß wir von Wolgadeutschen abstammten. Damit war auch gleich erklärt, warum in unseren Pässen unter Staatsangehörigkeit »staatenlos« und »früher russisch« stand.
Dreimal, fünfmal haben wir den Stammbaum umgeschrieben, da stimmte noch etwas nicht und da nicht, ein Name klang noch nicht deutsch genug, ein anderer dagegen zu deutsch. Doch dann stand er, zu aller Zufriedenheit, das heißt, zur Zufriedenheit Mamas. Auch Papa gab seinen Segen. Dann machten wir noch etwas sehr Kluges: wir fertigten eine Kopie des Stammbaums an und legten sie zu unseren Familiendokumenten. Das sollte sich später auszahlen. Ob Alex im Auftrag seines Lehrers in seiner Ahnengalerie herumforschen oder ein anderes Familienmitglied beim Ausfüllen von behördlichen Formularen der gesunden Rasse wegen die Namen der Großmütter und Großväter angeben mußte, dank dieser Kopie hatten wir keine Probleme, keine Widersprüche und immer die gleichen Namen. So wurde der anfangs als sehr lästig empfundene Stammbaum letztlich doch zu einer starken Strebe in unserem Lügengebäude.
Eine schwache, vielleicht sogar verräterische Stelle hatte der Stammbaum dennoch, und wir waren außerstande, sie auszumerzen. Wie konnten wir glaubhaft machen, daß meine Eltern zwar Wolgadeutsche seien, aber in Litauen geboren sein sollten? Aus unerfindlichen Gründen hatte mein Vater dem Aussteller des falschen Passes in Zürich als Geburtsort Wilna für sich und seine Frau angegeben, wie es dann auch von allen deutschen Behördenstellen übernommen wurde. Es ist möglich, daß er damit von seinem wirklichen Geburtsort in der Ukraine ablenken wollte, weil er ja noch immer in den dortigen Fahndungslisten geführt wurde; denkbar ist aber auch, daß es sich einfach um einen Verständigungsfehler handelt. Ich habe Gründe für diese Vermutung, denn auch der Name senger ist nur ein Schreibfehler meines Vaters, wie er mir einmal gestand.
Als er nämlich beim Ausstellen des falschen Passes auf einem Blatt Papier vorschreiben mußte, wie er in Zukunft heißen wolle, schrieb er jakob senger mit e. Eigentlich sollte der Name sänger mit ä sein, sänger mit ä, das hatte für einen Ostjuden, der nach Deutschland kam und sich einen zwar falschen, aber dennoch schönen deutschen Namen zulegen wollte, einen Sinn; senger mit ä erinnerte jeden frommen Juden gleich an den Chasn, den Vorsänger in der Synagoge; das war etwas Greifbares, Vorstellbares. Aber mein Vater hatte das Pech, den im Russischen wie im Jiddischen unbekannten Umlautbuchstaben Ä nicht zu kennen. Woher auch? So schrieb er eben Senger mit E, den Namen, den ich bis heute trage.
Es wäre zu leichtfertig, diesen Schreibfehler als Kleinigkeit abzutun. Rektor Beyer, den wir Vatermörder nannten, sorgte dafür, daß dieses E eine nachhaltige Wirkung hatte.
Vatermörders Steckenpferd war, wie gesagt, das Landsknechtleben. Eines Tages, während des Unterrichts, ging er durch meine Bankreihe und blieb vor mir stehen. »Steh auf, Senger!«
Ich sprang aus der Bank. Was wollte er? Was paßte ihm nicht?
»Hast du dir schon einmal überlegt, Senger, wer du überhaupt bist, von wem du abstammst?«
Wie war das möglich, daß ausgerechnet Vatermörder hinter unser Geheimnis gekommen war? Sollte er es wirklich herausgekriegt haben? Hatte die Stunde der Wahrheit geschlagen? Ich stammelte: »Ich weiß es nicht.«
»Du solltest es aber wissen. Meinst du nicht auch?«
»Ja, schon.«
»Dann will ich es dir sagen: vom Tollen Christian.«
Ich atmete tief auf. In dem Augenblick war es mir tausendmal lieber, vom Tollen Christian abzustammen, als von Moissee Rabisanowitsch aus Nikolajew.
»Vom Tollen Christian«, wiederholte er mit Nachdruck. »Das war der berüchtigte Herzog Christian von Braunschweig, der schlimmste Landsknechtführer im Dreißigjährigen Krieg. Wo immer er mit seinem wüsten Haufen hinkam, plünderte und tötete er und setzte den Bauern den Roten Hahn aufs Dach. Und einer deiner Vorväter muß zum Haufen des Tollen Christian gehört und sich beim Brandschatzen besonders hervorgetan haben. Dein Vorfahr also, der zum Schluß alles angezündet hat, dem gab man den Spitznamen >der Senger<. - Kapiert?« Ich nickte. »Siehst du, so hat jeder Familienname seine Geschichte, und die kann oft sehr interessant sein.«
Von dem Tag an bis zum Ausscheiden aus der Schule war ich für den Rektor der »Tolle Christian«, und auch meine Klassenkameraden riefen mich so. Und das alles nur, weil Papa den deutschen Umlautvokal Ä nicht schreiben konnte.
Das mangelhafte Deutsch meines Vaters war schuld an einem weiteren Mißverständnis, diesmal auf dem Frankfurter Standesamt, als er 1917 seine eben geborene Tochter anmeldete. Die Familie, also Mama, hatte beschlossen, die erste Tochter sollte den guten deutschen Namen Paula bekommen und als zweiten den an die Errettung der persischen Juden erinnernden stolzen Namen Esther.
Esther war meinem Vater geläufig, mit Begeisterung hatte er vor vielen Jahren an Purim, dem Fest der Kinder, den Grager (: Holzknarre zum Drehen, wie man sie ähnlich auch noch bei der alemannischen Fastnacht benutzt.) gedreht, diesen wunderbaren Krachmacher, wenn der Name des Despoten Haman ausgerufen wurde. Dieser hatte die persischen Juden töten wollen, was ihm aber dank der schlauen Esther nicht gelang. Esther anzugeben, war also für meinen Vater kein Kunststück. Der Name Paula jedoch hatte wieder etwas Tückisches an sich, den Doppelselbstlaut au. Aber Papa war gewarnt. Diesmal sollte ihm ein ähnlicher Fehler wie das E bei Senger nicht unterlaufen. Er überlegte, welche Vokale hintereinanderstehen mußten, damit man »Paula« sagen kann, und schrieb fein säuberlich: p a u. Da stockte er. Zwei Vokale, nur zwei? Wo die Deutschen doch so penibel sind und alles korrekter noch als korrekt machen? Papa wurde unsicher. Er durfte nichts vergessen, das wußte er. Da erinnerte er sich an das O. Auch das O klingt gut. Wenn man es ausspricht, muß man den Mund spitzen wie beim Singen. Wie konnte es da falsch sein, es einfach dazuzunehmen? Etwas zu viel ist immer noch besser als etwas zu wenig, dachte Papa. Deshalb schrieb er in seiner gestochen scharfen Schrift als Vornamen seiner neugeborenen Tochter pauola.
Und so steht noch heute im Paß meiner Schwester: pauola esther senger.
Auch das ist einer dieser merkwürdigen, unerklärbaren Zufälle, daß in allen amtlichen Dokumenten meiner Schwester ihr zweiter Vorname Esther angegeben war, ein so typisch jüdischer Vorname wie Sarah, Golde oder Rahel. Doch kein Mensch hat in den zwölf Jahren einmal danach gefragt, niemand ihn beanstandet oder mit Fingern auf die Trägerin dieses Vornamens gedeutet und gesagt: »Das muß doch eine Jüdin sein.« Das Ausfüllen jedes amtlichen Formulars, das jährliche Verlängern des Fremdenpasses und der Arbeitsgenehmigung von Paula brachte uns wegen dieses zweiten Vornamens fast zur Verzweiflung, Mama stöhnte, Papa rang die Hände, und einer von beiden sagte dann regelmäßig: »Wenn das nur gutgeht!«
Unser Biologielehrer bestaunte den Sengerschen Stammbaum, in dem sich die ganze Sippe väterlicher- und mütterlicherseits zwischen Don und Wolga aufhielt, in dem Gebiet, wo die Wolgadeutschen wohnen, natürlich mit Ausnahme unserer Familie, die es nach Frankfurt verschlagen hatte.
Auf seine Frage, was denn eigentlich meine Eltern veranlaßt habe, die Geborgenheit der Wolgadeutschen Heimat aufzugeben und sich in Frankfurt niederzulassen, war ich von Mama nicht vorbereitet und konnte ihm darum auch keine vernünftige Antwort geben. Das machte aber nichts. Jedenfalls imponierte ihm der Stammbaum, und er studierte ihn sehr genau.
Als er einige Wochen später mit uns die verschiedenen arischen Rassen besprach, nahm er auch an einigen Schülern Schädelmessungen vor. Dazu benutzte er ein seltsames Instrument, das wie ein großer, an den Enden stark gekrümmter Zirkel aussah, mit einem verstellbaren Zapfen in der Mitte. Außerdem hatte Bio-Vollrath noch einige Schautafeln und Tabellen mitgebracht.
Mich holte er als ersten vor die Klasse. An mir wollte er seine Fähigkeit in der Schädelbestimmung demonstrieren. Er drückte seinen krummen Zirkel an meinen Kopf, mal von vorne nach hinten, mal von links nach rechts, stellte jedesmal den senkrechten Stift nach, schrieb Zahlen auf, und die Klasse folgte aufmerksam dem ungewöhnlichen Tun. Hierauf begann er zu rechnen und in den Tabellen nachzuschlagen, die er, eine nach der anderen, vom Katheder hochnahm und dicht an seine dicken Brillengläser hielt. Schließlich drehte er sich zur Klasse und verkündete triumphierend: »Senger - dinarischer Typ mit ostischem Einschlag, eine kerngesunde arische Rasse.« Bio-Vollrath war mit sich und dem Ergebnis seiner ersten Schädelmessung vollauf zufrieden. Kein Wunder, er hatte Mamas Stammbaum gut studiert.